2019-03-21

Wiederentdeckte Künstlerinnen

 
 
Alte Meisterinnen

Yayoi Kusama, Ruth Wolf-Rehfeldt, Ingrid Wiener: Jahrzehntelang interessierte sich kaum jemand für ihr Werk. Im Rentenalter wurden sie zu Superstars. 

 


Yayoi Kusama (geb. 1929) ist sie eine der teuersten Künstlerinnen der Welt und Liebling der Instagrammer.
Yayoi Kusama (geb. 1929) ist sie eine der teuersten Künstlerinnen der Welt und Liebling der Instagrammer.Foto: imago/China Foto Press
Es ist die letzte Möglichkeit zum Gespräch; am nächsten Tag geht sie für vier Wochen in ihr Retreat. Dafür fährt Ruth Wolf-Rehfeldt nicht ins teure Spa – sie bleibt einfach vier Wochen lang zu Hause. Den Buddhismus hat sie nach der Wende entdeckt, zur selben Zeit, als sie aufhörte, Kunst zu machen. RWR, wie viele sie nennen, sah die Notwendigkeit nicht mehr. In der DDR hatte sie mit ihrer grafischen Schreibmaschinenkunst Grenzen überschritten, Grenzen zwischen Kunst und Poesie, zwischen Ländern und Systemen. Auch wenn sie selbst nicht nach Mexiko oder New York reisen konnte, ihre Mail Art flog überall hin. Nun, da die Grenzen offen waren, stellte sie fest: Es gibt schon so viel Kunst. Warum dann noch mehr?
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Knapp 30 Jahre ist es her, dass sie ihre Laufbahn beendete. Heute ist die Künstlerin 87 Jahre alt – und wird gefeiert wie nie. Das Museum Weserburg Bremen hat ihren Vorlass gekauft und einen großen Katalog zusammengestellt, sie wurde zur Documenta eingeladen, auf der Art Basel und in Ausstellungen vorgestellt. Inzwischen hat sie einen Verleger und eine Galerie in Berlin, und am kommenden Mittwoch widmet das Haus für Poesie in Prenzlauer Berg der Grenzgängerin einen eigenen Abend.
Es sind oft junge Leute, die bewundernd vor ihren Arbeiten stehen, welche so modern, so eigen wirken. Abstrakte „Typewritings“, geschaffen aus getippten Buchstaben und Zeichen, aus subtilen Botschaften und stillem Humor.
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Ruth Wolf-Rehfeldt (geb. 1932) Die Mail-Artistin aus Ost-Berlin überwand mit ihren „Typewritings“ Grenzen. 

Ruth Wolf-Rehfeldt (geb. 1932) Die Mail-Artistin aus Ost-Berlin überwand mit ihren „Typewritings“ Grenzen.Foto: Wikipedia / Creative Commons
Der Weg zu RWR führt am Autohändler und an Kleingärten vorbei. In ihrer winzigen Küche in Französisch Buchholz rührt sie den Nescafé an, mit dem es ins vollgestopfte Wohnzimmerchen geht. Die Künstlerin macht nicht den Eindruck, als hätte der späte Ruhm ihr Lebensglück entscheidend verändert. Als das Gespräch auf die Documenta 2017 kommt, schwärmt sie vor allem von den schönen Spaziergängen in Wilhelmshöhe. Wobei schwärmen fast schon übertrieben ist. RWR ist eine zurückhaltende Person – ihr Mann Robert Rehfeldt, der 1993 verstorbene Pionier der Mail Art in der DDR, der sie zur Kunst ermutigt hat, war der Extrovertierte.



Ruth Wolf-Rehfeldt war nicht die einzige ältere Dame auf der 14. Documenta. Dort konnte man auch die damals 91-jährige Geta Bratescu entdecken, die experimentierfreudige Rumänin, die sich mit ihrem vielseitigen Werk von Performance bis Bildhauerei dem Diktat des sozialistischen Realismus verweigerte. 2018 widmete ihr der Neue Berliner Kunstverein eine Solo-Show.


Geta Bratescu (1926-2018) Die vielseitige Rumänin experimentierte mit Performances, Cut-outs und Skulpturen.
Geta Bratescu (1926-2018) Die vielseitige Rumänin experimentierte mit Performances, Cut-outs und Skulpturen.Foto: Stefan Sava

Die Damen liefern fette Kost

Es gab eine Zeit, noch gar nicht so lange her, da konnten die Künstler gar nicht jung genug sein. Galeristen fischten sie von der Hochschule weg, pushten sie hoch und verheizten sie oft. Und jetzt? Sind die Seniorinnen dran. Die Liste derer, die erst spät oder posthum geehrt werden, ist lang: Christa Dichgans, Jeanne Mammen, Eva Hesse, Anita Rée, Alice Neel … Selbst Louise Bourgeois und Maria Lassnig wurden erst im Rentenalter zu den Superstars, die sie heute sind. Performancekünstlerin Takako Saito hat mit 88 ihre erste Retrospektive bekommen, Rose Wylie wird mit 84 als Junge Wilde gefeiert.


Christa Dichgans (1940-2018) gilt als „Grande Dame der deutschen Pop-Art“. Aus dem Alltag machte sie Kunst.
Christa Dichgans (1940-2018) gilt als „Grande Dame der deutschen Pop-Art“. Aus dem Alltag machte sie Kunst.Foto: Jan Bauer
Gründe dafür gibt es fast so viele wie Artistinnen. Das fängt damit an, dass das Interesse an Kunst insgesamt seit Jahren boomt, sodass ständig neues Futter benötigt wird. Und die Damen liefern fette Kost: ein unbekanntes, überraschendes Œuvre. Sie haben nicht nur einzelne Werke, sondern ein ganzes, reifes Werk vorzuweisen.
Davon profitieren jetzt, zum 100. Geburtstag, auch endlich die Bauhausfrauen, denen sich auffallend viele Bücher, Fernsehfilme und Ausstellungen widmen. Über Gropius ist eigentlich alles gesagt. Über Anni Albers nicht. Besucher ihrer Solo-Show, die im letzten Jahr erst im Düsseldorfer K20, anschließend in der Londoner Tate Modern lief, waren verblüfft von ihrer ebenso abstrakten wie sinnlichen Textilkunst, deren Vielfalt und Offenheit gegenüber Inspirationen.

„Frauen malen nicht so gut“

Anders als die Jungen hatten die Alten Jahrzehnte Zeit, ihr Werk zu entwickeln. Jahrzehnte, in denen sie kaum oder gar nicht beachtet wurden. Weil sie im Schatten der Männer, nicht selten ihrer eigenen, standen, weil sie keiner Schule angehörten, jenseits der aktuell angesagten Trends arbeiteten. Weil sie, ganz einfach: Frauen waren. Die es bis heute ungleich schwerer haben, ins Museum zu kommen. Vorurteile halten sich hartnäckig. Noch 2013 erklärte Georg Baselitz im „Spiegel“, „Frauen malen nicht so gut“. Und wer Kinder bekommt, hat es selbst im 21. Jahrhundert schwer, als Künstler ernst genommen zu werden. Für junge Väter gilt das nicht. Auch deswegen haben es die Alten einfacher: Sie sind aus dem gebärfähigen Alter raus.
Was allen Frauen hilft, ist der Aufstieg der Kuratorinnen an die Spitze vieler Institutionen. So hat die Direktorin der Tate Galleries gerade entschieden, in der Ausstellung britischer Kunst seit 1960 für mindestens ein Jahr nur Künstlerinnen zu zeigen. Ihr ging die Wiederentdeckung nicht schnell genug.
Im Nachhinein gereicht den Künstlerinnen die frühere Nichtbeachtung durchaus zum Vorteil. Denn frei vom Druck des Kunstbetriebs machten sie einfach, was sie für richtig hielten und nicht, was erwartet wurde. Jetzt werden sie bewundert für die Hartnäckigkeit, mit der sie ihre eigene Sache betrieben. So wie Carmen Herrera, die die „New York Times“ 2009 auf der Titelseite als „The Hot New Thing in Painting“ ankündigte. Dabei hat die kubanischstämmige New Yorkerin mit 89 ihr erstes Bild verkauft. Mit 103 malt sie immer noch ihre radikal reduzierten Werke, geometrische Abstraktion mit nie mehr als zwei Farben. Ermöglicht hat ihr dieses Leben ihr Mann, der als Englischlehrer das Geld verdiente und sie bat, keinen Brotjob anzunehmen, sondern zu Hause zu bleiben und Kunst zu machen.


Carmen Herrera (geb. 1915). Die kubanischstämmige New Yorkerin verkaufte mit 89 Jahren ihr erstes Bild.
Carmen Herrera (geb. 1915). Die kubanischstämmige New Yorkerin verkaufte mit 89 Jahren ihr erstes Bild.Foto: picture alliance / Adriana Lopez Sanfeliu
Je oller, desto doller die Rezeption. Die Geschichte der 103-Jährigen, die nach wie vor malt, ist natürlich auch genau das: eine großartige Geschichte. Die das Feuerwerk erst richtig entfacht. So wie der spektakulärste Fall der posthumen Auferstehung – Vivian Maier, die als Kindermädchen in den USA fantastische Street-Fotografie betrieb, Tausende von Aufnahmen machte, sie aber niemandem zeigte. Durch einen Zufall wurde ihre Arbeit 2007 entdeckt.
Als Außenseiterinnen, nicht selten auch Autodidaktinnen, entwickelten die Künstlerinnen zudem einen anderen Blick auf die Welt. Ein Blick, der heute auf mehr Interesse stößt als noch vor einem halben Jahrhundert.
So wie Ingrid Wiener. Gerade ist ein Buch über die Österreicherin erschienen, geschrieben von der jungen Berliner Autorin Carolin Würfel, deren Bewunderung der Frau so sehr wie der Künstlerin gehört. „Ingrid Wiener und die Kunst der Befreiung“ (Hanser Berlin) schildert das Leben einer pragmatischen Bohemienne.
Als Teenager ging Wiener zu einem Zuhälter, um zu lernen, wie guter Sex funktioniert (eine enttäuschende Recherche); als junge Textilkünstlerin webte sie erst mal Teppiche für Friedensreich Hundertwasser, nach dessen Bilder-Vorlagen, die dieser unter seinem Namen verkaufte. „Wir wollten nicht berühmt werden“, sagt Wiener heute, „wir wollten Geld verdienen.“


Ingrid Wiener (geb. 1942). Die Wiener Köchin und Künstlerin (in der Mitte) wird gerade als bodenständige Bohemienne entdeckt.
Ingrid Wiener (geb. 1942). Die Wiener Köchin und Künstlerin (in der Mitte) wird gerade als bodenständige Bohemienne entdeckt.Foto: picture-alliance / SCHROEWIG/Gud
Das hat sie zwischendurch auch gemacht, indem sie sich an den Herd stellte, erst im legendären Kreuzberger Künstlerlokal „Exil“, später in Dawson City, der Goldgräberstadt, wo sie mit ihrem Künstlergatten Oswald Wiener ein Hotel betrieb. Zwischendurch zog sie die Schürze immer wieder aus, um ihre Gobelins zu weben, in denen sie Alltagsdinge wie Gurken, Quittungen und Einkaufszettel verwob. Dann ging’s zurück an den Herd, österreichische Speisen kochen, was für sie keine Strafe, sondern ein Vergnügen war. Stieftochter Sarah Wiener hat bei Ingrid gelernt.

Kunst von Yayoi Kusama ist heute Millionen wert

Kurzer, grauhaariger Wuschelkopf, kullerrunde Brille, strahlende Augen, bunt karierte Schuhe – bei den Buchpräsentationen vorletzte Woche in Berlin kichert die 76-Jährige wie ein junges Mädchen, wenn sie aus ihrem reichen Leben erzählt. Das junge Publikum liegt ihr buchstäblich zu Füßen, Dussmann hat ein Schaufenster mit dem Buch gefüllt, eine Woche lang gibt sie jeden Tag ein Interview. Auf die Frage, ob sie bedauert, nicht früher Anerkennung gefunden zu haben, antwortet Wiener mit einem österreichischen „Naa!“. Wobei ihre Gelassenheit, genau wie die von Ruth Wolf-Rehfeldt, vielleicht auch mit den geringen Erwartungen zu tun hat, die an sie als Mädchen gestellt wurden.
Der plötzliche Boom der Oldies hat natürlich etwas mit den neuen Kanälen zu tun, über die Vergessene jenseits der Kunstkritik Aufmerksamkeit bekommen. Prominentestes Beispiel: Yayoi Kusama, die als Japanerin im New York der 60er Jahre mit ihren ungewöhnlichen Skulpturen zwar beachtet, aber für ihren Geschmack schwer unterschätzt wurde und nach einem Nervenzusammenbruch in ihre Heimat zurückkehrte. Heute, mit 89, gilt sie als eine der teuersten Künstlerinnen der Welt, kostet ein Bild nicht mehr 75 Dollar, sondern schon mal sieben Millionen.


Anni Albers (1899-1994). Die Bauhauskünstlerin (hier mit Ehemann Josef) ist durch ihre abstrakten Teppiche und Textilien bekannt.
Anni Albers (1899-1994). Die Bauhauskünstlerin (hier mit Ehemann Josef) ist durch ihre abstrakten Teppiche und Textilien bekannt.Foto: picture alliance/AP Images
Die Mutter hat ihr das Zeichnen als Kind einst verboten und Bilder zerrissen. Das Selbstbewusstsein der Tochter zu zerstören gelang ihr nicht: „Es gibt nichts, was ich nicht ausdrücken kann.“ Allein im letzten Jahr hatte die Künstlerin fünf große Einzelausstellungen, ein eigenes Museum hat sie auch. Gegenüber von der Nervenklinik, in der sie seit 40 Jahren freiwillig wohnt, das heißt vor allem schläft, weil sie von morgens früh bis abends spät in ihrem Atelier arbeitet – die Kunst empfindet sie als Schutzschild gegen die Krankheit. Während die Kritiker noch darüber diskutieren, ob ihre Arbeit nun gefällig ist, ein existenzieller Schrei der Verzweiflung oder ein einzigartiges Beispiel der Konzeptkunst, haben die Instagrammer längst ihre Bilder gepostet. Für die sozialen Medien ist die schillernde Kusama wie geschaffen. Auf Fotos kann man gar nicht sagen, wo die Künstlerin aufhört und ihre Kunst anfängt. Sie malt knallbunte dicke Punkte und trägt knallbunte dicke Punkte, passend zum knallroten Pagenschnitt.

Bekanntmachen allein reicht nicht

Kusama ist bei David Zwirner unter Vertrag, Nummer 1 unter den Kunsthändlern, der auch die Nachlasse von Anni Albers und Alice Neel betreut, die mit ihrem eigenwilligen, politischen Realismus in den letzten Jahren Furore machte. Denn auch das fördert die weibliche Attraktivität: dass die Steigerungsraten der Preise großes Potenzial haben. Unter den 50 teuersten Künstlern der Welt findet sich bisher keine einzige Frau. Für die Ausstellungsmacher wiederum bedeuten die niedrigeren Preise, dass auch die Versicherungssummen nicht so astronomisch sind – daran scheitert sonst so manche Schau.


Eva Hesse (1936-1970). Die deutsch-amerikanische Bildhauerin schuf große Skulpturen aus Kautschuk und Polyester.
Eva Hesse (1936-1970). Die deutsch-amerikanische Bildhauerin schuf große Skulpturen aus Kautschuk und Polyester.Foto: bpk/Münchner Stadtmuseum, Sammlung Fotografie/Hermann Landshoff
Dass die Frauen überhaupt vergessen wurden, hängt nicht zuletzt mit den Brüchen ihrer Biografien zusammen, den privaten wie den politischen. Lotte Laserstein zum Beispiel, deren kraftvolle Porträts der Neuen Sachlichkeit Kritiker und Besucher des Frankfurter Städel-Museums entzücken (ab April ist die Ausstellung in der Berlinischen Galerie zu sehen), musste in den 30er Jahren ins schwedische Exil fliehen. Dort hat sie zwar überlebt – aber um den Preis der künstlerischen Unabhängigkeit. Sie schlug sich vor allem mit gefälligen Auftragsarbeiten durch.
In Berlin konnte man Lotte Laserstein schon 2003 in einer großen Ausstellung entdecken. Dank des Verborgenen Museums, in dem zur Zeit eine viel gelobte Ausstellung der in die Niederlande emigrierten Fotografin Maria Austria zu sehen ist. Die Charlottenburger Institution hat sich schon vor mehr als 30 Jahren zur Aufgabe gemacht, was heute en vogue ist: vergessene Künstlerinnen, vor allem Fotografinnen, wieder in den Fokus zu rücken. Nicht nur mit einzelnen, aufregenden Ausstellungen, sondern langfristigen Forschungen und internationalen Kooperationen. Denn Bekanntmachen allein reicht den Museumsmacherinnen nicht, Bekannthalten heißt die Herausforderung. Auch wenn der Andrang von Studenten und Journalisten in den letzten Jahren spürbar gestiegen sei, könne es noch immer passieren, dass Künstlerinnen in Lexika einfach fehlen. Was wohl passieren würde, wenn die Männer rausflögen?

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